18. Tätigkeitsbericht (1996)



2.

Der Weg in die Computergesellschaft

2.1

Grundrechtsfreundliche Technik

Betrachtet man die Entwicklung der Datenschutzdiskussion in Deutschland in den vergangenen Jahren, so fällt auf, daß sie in starkem Maße juristisch geprägt war. Zu Recht wurde großer Wert darauf gelegt, daß personenbezogene Daten nur auf einer präzisen Rechtsgrundlage verarbeitet werden. In den letzten Jahren ist deswegen eine ganze Reihe von bereichsspezifischen Gesetzen in Kraft getreten. Das Datenschutzrecht ist dadurch komplizierter und unübersichtlicher geworden, so daß es diskussionswürdig erscheint, ob in dieser Form das verfassungsrechtliche Gebot der Normenklarheit noch gewährleistet ist. Viele der neuen Gesetze verfolgen nämlich offensichtlich nicht das Ziel, die Datenverarbeitung der Verwaltung zu begrenzen, sondern den "Besitzstand" gesetzlich abzusichern. Bei näherem Zusehen entpuppen sich manche dieser bereichsspezifischen "Datenschutzgesetze" als Datenverarbeitungserlaubnisgesetze (vgl. Tz. 4.6.3). Diese Tendenz wird besonders dort auf die Spitze getrieben, wo umfangreiche, wortreich-bemühte Paragraphen mit weit formulierten Generalklauseln kombiniert und damit im Ergebnis konterkariert werden. Es zeigt sich, daß die Gesetzgebung der vergangenen Jahre für das Grundrecht auf Datenschutz nicht nur Vorteile gebracht hat. Immer wieder sind Bürger enttäuscht, wenn wir ihnen mitteilen müssen, daß Verfahrensweisen, die sie zu Recht als unangemessen betrachten, in den Gesetzen zugelassen sind.

Zugleich hat sich in den vergangenen Jahren die Technik völlig verändert. Die massenhafte Verbreitung von Personalcomputern, ihre Vernetzung und ihre Kombination mit multimedialen Angeboten stellt eine mit dem traditionellen Datenschutzrecht kaum lösbare Herausforderung dar. Es wird nicht einfach sein, eine derart virulente und breit gestreute Technik mit Rechtsnormen wirksam einzufangen. Es gilt auch zu bedenken, daß dem Datenschutz unterschwellige Technikängste nicht länger zunutze kommen, weil der spielerisch-unbefangene Umgang mit den Computern für viele Menschen, vor allem der jüngeren Generation, selbstverständlich geworden ist.

Erfreulich ist daher, daß es die Dialektik des Prozesses mit sich bringt, daß die Technik selbst Instrumente entwickelt, die der Gefährdung des Grundrechts auf Datenschutz entgegenwirken. Wirkungsvolle und gleichwohl für den Alltagsgebrauch geeignete Verschlüsselungsverfahren bieten die Chance auf freie, nicht kontrollierbare Kommunikation und auf Sicherung gespeicherter Daten vor unbefugter Kenntnisnahme (vgl. Tz. 6.4). Digitale Signaturen machen es möglich, Texte gegen unbefugte Veränderungen zu schützen und sicher demjenigen zuzuordnen, von dem sie stammen. Gute Programme zum Schutz personenbezogener Daten gegen unbefugten Zugriff sind heute zu vertretbaren Preisen verfügbar. Mehr und mehr werden anspruchsvolle Protokollierungsverfahren entwickelt, die es auch dem technischen Laien ermöglichen sollen, die Aktivitäten des Systemadministrators im nachhinein zu kontrollieren.

Noch besser ist es allerdings, wenn Verarbeitungssysteme so ausgestaltet sind, daß personenbezogene Daten möglichst von vornherein gar nicht oder jedenfalls nicht zentral, sondern vor Ort beim Betroffenen selbst gespeichert werden (Prinzip der Datenvermeidung). Gerade zu Beginn der Einführung von Multimedia-Angeboten ist es wichtig sicherzustellen, daß möglichst wenig Daten über die Kunden und Verbraucher gespeichert werden und daß sie, wenn es wirklich unumgänglich ist, möglichst beim Kunden selbst gespeichert und so früh wie möglich wieder gelöscht werden (vgl. Tz. 7.1). Die Computerisierung der Medizin auf allen Ebenen könnte auch als Chance genutzt werden, bislang bestehende Risiken für das Patientengeheimnis zu minimieren (vgl. Tz. 4.8.4).

Nach wie vor kann man allerdings feststellen, daß hochmoderne, teure Verarbeitungsanlagen zwar über schier unendlich viele Leistungsmerkmale verfügen, das Wichtigste und Naheliegendste aus der Sicht des Grundrechtschutzes aber fehlt. So weist die neue Telefonanlage im Bereich des Landtages und der Landesregierung zwar ein ganzes Arsenal verblüffender Leistungsmerkmale auf. Aber die Anlage kann technisch nicht das strafbare unbefugte Abhören des nichtöffentlich gesprochenen Wortes in Form des Einschaltens des Lautsprechers verhindern. Statt dessen müssen die Bediensteten durch eine hergebrachte Dienstanweisung daran erinnert werden, daß das Einschalten des Lautsprechers ohne Einwilligung des Gesprächspartners strafbar sein kann.

Selbstverständlich bietet die Anlage auch die Bequemlichkeit des Direktrufs, so daß man bestimmte Anschlüsse per Knopfdruck unmittelbar erreichen kann. Leider ist damit aber - angeblich unabänderlich - die Nebenfolge verbunden, daß die Teilnehmer am Direktruf, auch wenn sie gar nicht telefonieren wollen, sehen, wer gerade telefoniert. Da dies bei einer von Exekutive und Legislative, Regierung wie Opposition, gemeinsam genutzten Telefonanlage zu brisanten Überwachungseffekten hätte führen können, mußte der Anwendungsbereich dieses Leistungsmerkmales Schritt für Schritt eingeengt werden. Der Direktruf ist jetzt nur noch innerhalb der Ressorts zulässig und auch nur dann, wenn die Betroffenen eingewilligt haben. Dies bringt umständliche Prozeduren mit sich, die obendrein den Schönheitsfehler haben, daß sich ein Mitarbeiter wohl kaum dem Wunsch seines Vorgesetzten nach Einrichtung eines Direktrufs entziehen kann. So können sich Überwachungseffekte ergeben, die vor dem Hintergrund des allseits favorisierten kooperativen Führungsstils durchaus kritisch hinterfragt werden können. Und das alles nur, weil sich das unerwünschte Aufleuchten eines roten Lämpchens offenbar technisch nicht verhindern läßt (vgl. Tz. 7.4).

Der Datenschutz steht in den nächsten Jahren vor der Aufgabe, das technische Potential für das Grundrecht auf Datenschutz nutzbar zu machen. Dazu bedarf es der richtigen Schwerpunktsetzung für die eigene Arbeit sowie der nachhaltigen Überzeugungsarbeit gegenüber den Herstellern und der Verwaltung. Die Hersteller müssen davon überzeugt werden, daß die Kunden künftig höhere Qualitätsansprüche stellen werden. Die Verwaltung muß dazu bewegt werden, grundrechtsfreundliche Technik bevorzugt einzusetzen (vgl. Tz. 4.2.5). Die Datenschutzbeauftragten selbst sollten sich verstärkt diesem Fragenkreis widmen. Die diesjährige Sommerakademie hat sich zum Ziel gesetzt, mit Herstellern, Wissenschaftlern, Verbraucherschützern, Politikern und Datenschutzbeauftragten über diese Fragen zu diskutieren (vgl. Tz. 12.). In den Dienststellen der Datenschutzbeauftragten wird sich in den kommenden Jahren eine Verschiebung hin zu mehr technischem Sachverstand ergeben. Zudem stellt sich die Frage, ob nicht die Datenschutzbeauftragten wegen ihrer Unabhängigkeit und des Vertrauens, das sie bei den Bürgern genießen, die idealen Stellen wären, bei denen Trustcenter und andere Vertrauensfunktionen eingerichtet werden könnten.

2.2

Der Große Lauschangriff - was kommt als nächstes?

In der Öffentlichkeit wird vielfach der Eindruck erweckt, als seien mit dem F.D.P.-Mitgliederentscheid die Würfel für die Einführung des Großen Lauschangriffs gefallen. Dabei steht die eigentliche parlamentarische Debatte erst noch bevor. Ob die für die fällige Grundgesetzänderung notwendige 2/3-Mehrheit im Deutschen Bundestag zu erreichen ist, wird sich erst danach zeigen. Noch bleibt die Hoffnung, daß uns das Grundgesetz auch künftig vor Abhörwanzen und geheimen Videokameras in unseren Privatwohnungen schützt.

Bei den parlamentarischen Beratungen wird sicher auch die Art und Weise eine Rolle spielen, wie in den vergangenen Monaten die Notwendigkeit der Einführung des Großen Lauschangriffs relativiert wurde. Statt der leidenschaftlichen Plädoyers in der Anfangsphase der Diskussion, daß der Große Lauschangriff unbedingt erforderlich sei zur Abwehr schwerer Gefahren für das Gemeinwohl, sind zunehmend leisere Töne zu vernehmen. Seit geraumer Zeit halten sich diejenigen bedeckt, die mit drastischen Prognosen den Lauschangriff als die Waffe gegen die Rauschgiftkriminalität und andere Kapitalverbrechen bezeichnet haben. Allenthalben wird auch in Polizeikreisen abgewiegelt. Wichtig sei der Große Lauschangriff schon, aber ein Allheilmittel sei er nun auch wieder nicht. Es gäbe schon Situationen, in denen er nützlich sein könnte. Er sei aber nur ein Mittel unter vielen, das man der Polizei nicht vorenthalten sollte. Andere Länder hätten ihn auch, warum sollte Deutschland darauf verzichten usw.

Es macht betroffen, wenn solche Argumentationen ausreichen sollen, eines unserer zentralen Grundrechte, nämlich die Unverletzlichkeit der Privatwohnung, in der Substanz aus den Angeln zu heben. Wenn es schon reicht, daß ein Mittel gewissermaßen das "Sortiment abrundet", auf welche grundrechtlichen Garantien kann man dann noch bauen?

Andere argumentieren auch heute noch mit der Kriminalstatistik. Sie ist aber nur eine Momentaufnahme der Kriminalität, die der Polizei bekannt geworden ist. Sie beinhaltet einerseits ein hohes Dunkelfeld, z.B. im Bereich der "Weiße-Kragen-Kriminalität", besagt andererseits nichts darüber, ob die von der Polizei registrierten Strafvorwürfe tatsächlich zutreffend waren und zu einer Verurteilung der Verdächtigen geführt haben. Will man mit der Kriminalstatistik seriös umgehen, bedarf sie der wissenschaftlichen Bearbeitung. Selbst Polizeibeamte räumen unumwunden ein, daß durchaus Spielräume bei der Gestaltung der Kriminalstatistik genutzt werden. So war zu lesen, man könne einen Sachverhalt statistisch als eine Straftat erfassen, genausogut aber zum Beispiel dort wo Personaleinsparungen bei der Polizei drohen, in ein halbes Dutzend Bagatelldelikte weiter aufgliedern. Eine einzige große Wirtschaftsstraftat mit Milliardenschäden hat z.B. die registrierte organisierte Kriminalität geradezu bedrohlich anwachsen lassen.

In jedem Jahr wiederholt sich zudem das gleiche Ritual. Die Zahlen der Kriminalstatistik werden publizistisch in zumeist dramatischer Aufmachung mehrfach "verbraten": Einmal als Vorausschätzung, dann als voraussichtlicher Trend, dann als tatsächliche Statistik, dann als Landesstatistik, dann als Statistik der Polizeigewerkschaft, später wiederum als ortsbezogene Auswertung. Jedesmal eine prächtige Gelegenheit, damit Politik zu machen.

Was uns daran stört ist, daß zumeist nach der Veröffentlichung entsprechender Zahlen die Forderungen nach weiteren Grundrechtseinschränkungen nicht lange auf sich warten lassen. Würden wir phantasielos nach jeder Statistik aus dem Bereich der organisierten Kriminalität ein weiteres Grundrecht einschränken, dann wäre absehbar, daß das Grundgesetz bald in seiner Substanz ausgehöhlt wäre. Und doch hätten wir am Ende nichts erreicht. Denn im nächsten Jahr würden nach allen bisherigen Erfahrungen die Kriminalitätszahlen erneut steigen. Wahrscheinlich hätten wir bald Pest und Cholera zugleich: hohe Kriminalitätsraten und weitgehend eingeschränkte Grundrechte.

Seit Jahren werden in Deutschland die Befugnisse der Polizei ständig erweitert. Die Strafprozeßordnung ist über Jahrzehnte nur einseitig um neue Ermittlungsbefugnisse bereichert worden. In die Ausstattung der Polizei mit modernster elektronischer Technik wurden bundesweit Hunderte von Millionen investiert. Auch in Schleswig-Holstein steht ein gewaltiger Investitionsschub bevor (vgl. Tz. 4.2.8). Die Zahl der Polizeibeamten ist in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten wesentlich stärker gestiegen als das Bevölkerungswachstum. Trotzdem müssen wir Jahr für Jahr das gleiche registrieren: steigende Kriminalstatistiken.

Gleichwohl kann man der Polizei nicht den entscheidenden Vorwurf machen: Sie ist für die Kriminalität in der Gesellschaft nicht verantwortlich. Sie ist auch nicht in der Lage, Straftaten in großem Umfang zu verhindern. Obwohl alle Landespolizeigesetze im letzten Jahrzehnt mit einem ganzen Arsenal rechtsstaatlich höchst bedenklicher Vorfeldbefugnisse zur Verhütung von Straftaten ausgestattet wurden - in einigen Ländern lassen sie sogar den Großen Lauschangriff zu, um Vergehen zu verhindern -, ist die Kriminalität unablässig weiter gestiegen.

Was wir deshalb brauchen, ist eine objektive Analyse der Wirksamkeit der polizeilichen Instrumente. Was Telefonüberwachung, Richtmikrophone, polizeiliche Beobachtung, Rasterfahndung, längerfristige Observation usw. an Erfolgen gebracht haben, muß unvoreingenommen untersucht werden, bevor ständig weiter in diese Richtung "investiert" wird. Dabei muß auch der Frage nachgegangen werden, welche "Kosten" auf der Grundrechtsseite entstanden sind, z.B. wie häufig Unverdächtige betroffen waren. Es hat den Anschein, als sei die Polizei im Bundesgebiet an einer solchen objektiven Analyse nicht sonderlich interessiert. Um so wichtiger ist es, daß der Innenminister des Landes seine Ankündigung wahrmacht, er werde notfalls auf Landesebene eine solche Analyse erstellen lassen (vgl. Tz. 10.1).

Wenn die Spirale von Kriminalstatistik und Grundrechtseinschränkungen nicht durchbrochen und durch einen rationalen Dialog über die Ursachen der Kriminalitätsentwicklung ersetzt wird, stellt sich in der Tat die bange Frage: Welches Grundrecht ist als nächstes dran, wenn der Große Lauschangriff abgehakt ist?


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