Dienstag, 23. November 2010

Offener Brief zur Vorratsdatenspeicherung

Offener Brief des Leiters des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz Schleswig-Holstein (ULD) an

  • den Präsidenten des Bundeskriminalamtes
  • den Vorsitzenden der Gewerkschaft der Polizei
  • den Vorsitzenden des Bundes Deutscher Kriminalbeamter

Sehr geehrte Herr Ziercke, 
sehr geehrter Herr Witthaut,
sehr geehrter Herr Jansen,

bei der aktuell hitzig diskutierten Frage über die Zukunft der Kriminalitätsbekämpfung im Internet sind Sie Protagonisten für die Sicherheitsbehörden, die sich laut und vehement für eine schnelle und maximale gesetzliche Umsetzung einer sechsmonatigen Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikationsdaten einsetzen. Sie fordern, die Verpflichtung für Telekommunikationsanbieter umgehend wieder in Kraft zu setzen, die vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit Urteil vom 02.03.2010 für nichtig erklärt wurde. Das BVerfG hat, wohl vor allem angesichts der europäischen Vorgaben, diese sechsmonatige Vorratsdatenspeicherung nicht grundsätzlich verworfen, wohl aber deren äußerste verfassungsrechtlichen Grenzen aufgezeigt. Es gehört zu den politischen Gestaltungspflichten, nicht das maximal Mögliche an Grundrechtseinschränkungen vorzusehen, sondern das Nötige und Sinnvolle. Dabei sollte und kann angesichts der Infragestellung auf EU-Ebene im Rahmen der derzeit laufenden Evaluation auch die sechsmonatige Vorratsspeicherpflicht auf EU-Ebene nicht als unabänderbar behandelt werden.

Ebenso wie für Sie ist es ein zentrales Anliegen des ULD, die Kriminalitätsbekämpfung im Internet zu verbessern. Dieses Anliegen ist auch insofern eines des ULD, als im Internet zunehmend nicht akzeptable Verletzungen von Datenschutz und Persönlichkeitsrechten erfolgen. Insofern dürfte ein breiter gesellschaftlicher Konsens bestehen. Angesichts des Umstandes, dass das Internet zum umfassenden Kommunikationsnetz der Zukunft wird, sind rechtliche, organisatorische und technische Rahmenbedingungen zu schaffen, die einerseits eine wirksame Gefahrenabwehr und Strafverfolgung ermöglichen, andererseits aber hierbei einen effektiven Grundrechtsschutz - insbesondere der unbescholtenen und nicht verdächtigen Masse der Bevölkerung - zu sichern. Auch Ihnen dürfte bewusst sein, dass polizeiliches Vorgehen im Internet schnell die Grundrechte auf informationelle Selbstbestimmung, auf Gewährleistung der Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme, auf Wahrung des Telekommunikationsgeheimnisses und vieler weiterer Grundrechte mit einer digitalen Dimension zerstören können. Hieran kann Ihnen nicht gelegen sein. Dies gebietet es, informationelle Eingriffe und die Erlaubnisse hierzu daran auszurichten, dass diese so gering wie möglich und verhältnismäßig sind. Im Interesse eines rationalen demokratischen Diskurses sollten sich sämtliche relevanten Diskussionspartner hieran orientieren.

Leider vermissen wir in der Diskussion zur Vorratsdatenspeicherung bei Ihnen dieses Streben. Ähnlich wie bei der Diskussion um die sog. Online-Durchsuchung erwecken Sie den falschen Eindruck, dass ohne die Verwirklichung einer maximalen Regelung Strafverfolgung im Internet nicht mehr möglich wäre. Die von Ihnen vorgetragenen Zahlen und Argumente sind oft nicht nachvollziehbar und überprüfbar. Insbesondere berücksichtigen Sie zu wenig, dass Strafverfolgung im Internet nicht von einem einzigen Instrument abhängt, sondern von einem effektiv eingesetzten Mix von Maßnahmen, wobei viele dieser Maßnahmen grundrechtsneutral sein können. Konkret erfolgt von Ihnen zu wenig eine Berücksichtigung folgender Aspekte zum schnellen "Einfrieren" von Verkehrsdaten (sog. Quick Freeze):

  • die zu geringe personelle Ausstattung mit qualifizierten Strafverfolgern, die im Internet- bzw. IT-Bereich tätig sind,
  • die bisher nicht optimierten Meldewege von den Anzeigenden zur Polizei sowie zu privaten Internetdienstleistern und wieder zurück zur Polizei,
  • aufwändige und zeitträchtige Verfahrensabläufe, auch bei für den Grundrechtsschutz unerlässlichen verfahrensrechtlichen Sicherungen wie z.B. bei richterlichen Prüfungen,
  • fehlende Standards für die Durchführung und Priorisierung von Strafverfolgungsmaßnahmen,
  • Mängel in der Internetstruktur bzgl. Datenschutz und Datensicherheit.

Die Beurteilung repressiver Vorratsdatenspeicherung muss zudem unter dem Aspekt erfolgen, ob und inwieweit mögliche Opfer von Straftaten durch präventive Maßnahmen Angriffe abwehren können. Relevant ist weiterhin, inwieweit es Kriminellen möglich ist, durch Nutzung ausländischer oder spezifischer technischer Angebote sich den mit der Vorratsdatenspeicherung ermöglichten Ermittlungen zu entziehen bzw. diese zu vereiteln und inwieweit in der Praxis von diesen Angeboten Gebrauch gemacht wird.

Sowohl der geforderte Umfang der auf Vorrat zu speichernden Daten (sämtliche sog. Verkehrsdaten) wie auch deren Speicherdauer (mindestens 6 Monate) wurden bisher nicht auf ihre Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit hin überprüft. So wird z.B. von Polizeiseite zwar die Notwendigkeit der Zuordnung von IP-Adressen zu einer Person betont; die Notwendigkeit anderer Verkehrsdaten (z.B. Standortangaben) ist dagegen wenig begründet.

Die Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikationsdaten ist nicht die erste Maßnahme einer anlasslosen Vorratsdatenverarbeitung für Zwecke der Strafverfolgung, ohne dass es bisher zu einer wissenschaftlichen Evaluation der bestehenden Maßnahmen gekommen wäre, z.B. bei der präventiven Erfassung von Mobilfunkanschlüssen oder der Bereitstellung und Auswertung von Fluggast- oder Finanztransaktionsdaten durch US-Sicherheitsbehörden. Nur eine solche Evaluation unter Berücksichtigung aller relevanten Parameter ermöglicht eine Optimierung zwischen den Zielen der effektiven Strafverfolgung und des effektiven Grundrechtsschutzes. Dabei müssen wir uns in einer offenen Gesellschaft dessen gewahr sein, dass das Streben nach einer hundertprozentigen Sicherheit der Tod aller Freiheit wäre und nicht erfolgreich sein kann.

Ihre Forderung nach sechsmonatiger Vorratsdatenspeicherung erinnert uns an Cato, der bei jeder Gelegenheit im römischen Senat die Zerstörung Karthagos gefordert haben soll; im Jahr 150 v. Chr. kam es dann zum Dritten Punischen Krieg. Das Beharren auf einer Forderung und dessen Bekräftigung bei jeder Gelegenheit, etwa bei den aktuellen Warnungen vor terroristischen Anschlägen, fördert weder den ernsthaften Diskurs noch führt er zu guten Ergebnissen, die von der Gesellschaft insgesamt mitgetragen werden können.

Wie Ihnen bekannt ist, hat der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit (BfDI) in der letzten Zeit eine Diskussion angeregt, die von einer möglichen Pflicht zu einer kurzen Aufbewahrung bestimmter Verkehrsdaten zum Zweck der Bekämpfung schwerer Kriminalität ausgeht. Diese Überlegungen werden – wie Sie wissen – von mir geteilt. Als Reaktion auf die Anregung des BfDI gab es einen "offenen Brief" des Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung an den BfDI, der eine Diskussion unter Grundrechtsschützern initiierte (http://www.vorratsdatenspeicherung.de/content/view/407/1/lang,de/). An dieser Diskussion haben Sie sich bisher nicht beteiligt. Mit diesem offenen Brief möchte ich Sie hierzu nachdrücklich einladen und auffordern. Nur so lässt sich die aktuelle politische Blockade bei diesem Thema auflösen. Das Andauern dieser Blockade kann nicht in Ihrem Sinne sein. Daher möchte ich Sie nachdrücklich bitten, durch eine differenzierte Argumentation unter Einbeziehung der oben genannten Aspekte auch Lösungen mitzudenken, die datensparsam und grundrechtskonform sind.

Über Rückmeldungen würden wir uns und würde ich mich sehr freuen.

Mit freundlichen Grüßen
Thilo Weichert