27. Tätigkeitsbericht (2005)

2    | Datenschutz in Deutschland

Die positive Bilanz für den Datenschutz in Schleswig-Holstein lässt sich leider nicht auf Gesamtdeutschland übertragen. In vielen Ländern, aber auch im Bund sind die Weichen zwar in Richtung Informationsgesellschaft  gestellt, doch wird dabei dem Datenschutz oft nur ein zu geringer Stellenwert beigemessen. Diese Entwicklung ist fatal, weil die Gestaltung der Informationsgesellschaft auf die Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger angewiesen ist. Ohne die informationelle Selbstbestimmung gibt es keine Handlungsfreiheit, und ohne diese gerät die Entwicklungsdynamik der privaten, geschäftlichen, aber auch der sozialen und politischen Kommunikation ins Stocken. Wer die Zukunft von Wirtschaft, Verwaltung und Gesellschaft in der Entwicklung einer zivilen Informationsgesellschaft sieht, ist gut beraten, den Datenschutz als einen zentralen Konstruktionspfeiler zu beachten und zu fördern.

Insbesondere auf Bundesebene ist eine Überwachungsneigung festzustellen, die aus Grundrechtssicht beängstigend ist. Kaum ein Ressort zeichnet sich durch ein ausgeprägtes Datenschutzbewusstsein aus, schon gar nicht das für Verfassungsfragen und für den Datenschutz allgemein zuständige Bundesinnenministerium. Es scheint weniger böser Wille als mangelndes Problembewusstsein zu sein, dass in den Ministerien informationstechnische Blütenträume wachsen und gedeihen, bei denen die Grundrechte zu kurz kommen. Diese Träume auf den Boden unseres Grundgesetzes zu vererden ist die Aufgabe der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder. Unterstützung erhalten sie von Fall zu Fall durch das Bundesverfassungsgericht und die öffentlichen Medien.

2.1    | Das Lauschurteil des Bundesverfassungsgerichts

Das am 15. Dezember 1983 am Vorabend des Orwell-Jahres 1984 gefällte Volkszählungsurteil  des Bundesverfassungsgerichts hat die Bedeutung einer Bergpredigt des Datenschutzes gewonnen. In vielen weiteren Entscheidungen hat das höchste deutsche Gericht inzwischen den Schutz des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung konkretisiert und vertieft. Immer wieder hat es der Politik bescheinigt, dass die von ihr verabschiedeten Überwachungsgesetze über das hinausgehen, was unser Grundgesetz erlaubt. Am 3. März 2004 fällte das Bundesverfassungsgericht zwei weitere grundlegende Entscheidungen, in denen es gravierend in die informationellen Freiheitsrechte eingreifende Gesetze aufhob und fundamentale Aussagen zu den Verfassungsanforderungen an präventive Telekommunikationsüberwachung  sowie zum heimlichen Belauschen des privaten Wohnraums traf.

Insbesondere das so genannte Lauschurteil  lässt die Herzen der Verteidiger unserer bürgerrechtlichen Freiheiten höher schlagen: Es stellt fest, dass die private Wohnung zur Schutzsphäre des grundsätzlich unantastbaren Kernbereichs privater Lebensgestaltung gehört und als "letztes Refugium" zur Wahrung der Menschenwürde fungiert. Der Schutz dieses Kernbereichs darf nicht mit Argumenten zur "Effektivität der Strafrechtspflege" relativiert werden. Zum Höchstpersönlichen gehören die Familie und die Sexualität, aber auch Gespräche mit Pastoren, Ärzten und Rechtsanwälten, zu denen aus beruflichen Gründen ein besonderes Vertrauensverhältnis besteht. Ebenso wie das Volkszählungsurteil  beschränkt sich das Lauschurteil nicht auf grundsätzliche Erwägungen, sondern konkretisiert den Grundrechtsschutz durch Anforderungen an die Rechtskontrolle durch unabhängige Richter, an Löschfristen, an Evaluierungspflichten, an Beweisverwertungsverbote, an die Befristung von Maßnahmen sowie an Kennzeichnungs- und nachträgliche Benachrichtigungspflichten (Tz. 4.3.1).

Verblüffend war die geringe Überzeugungskraft, die dieses Urteil bei vielen Verantwortlichen entfaltete. Als kurz nach dem Urteil in Madrid ein schrecklicher terroristischer Anschlag verübt worden war, standen auf der politischen Agenda Überwachungsmaßnahmen, die offensichtlich nicht mit den Ausführungen zum Lauschurteil in Einklang zu bringen waren, sei es der Spähangriff in Wohnungen, die Vorratsspeicherung  von Telekommunikationsverkehrsdaten oder die Zulassung weiterer geheimer Vorfeldermittlungsmaßnahmen. Häufig wurde gar nicht erst versucht, sich mit den Argumenten des Bundesverfassungsgerichtes auseinander zu setzen. Vielmehr wurden diese ignoriert; die Freiheitsrechte wurden einer einfachen Sicherheitsdogmatik unterworfen. Dass bislang nur wenige Forderungen im Namen der Sicherheit umgesetzt wurden, ist vielen Menschen in unserer Gesellschaft zu verdanken, die die Messlatte der Verfassung als Maßstab ihres politischen Handelns begreifen.

2.2    | Die Neigung zur Vorratsdatenverarbeitung

Im Wortlaut:

Verbot der Vorratsdatenspeicherung

"Ein Zwang zur Angabe personenbezogener Daten setzt voraus, dass der Gesetzgeber den Verwendungszweck bereichsspezifisch und präzise bestimmt und dass die Angaben für diesen Zweck geeignet und erforderlich sind. Damit wäre die Sammlung nicht anonymisierter Daten auf Vorrat zu unbestimmten oder noch nicht bestimmbaren Zwecken nicht zu vereinbaren. Auch werden sich alle Stellen, die zur Erfüllung ihrer Aufgaben personenbezogene Daten sammeln, auf das zum Erreichen des angegebenen Zieles erforderliche Minimum be schränken müssen." (BVerfGE 65, 46)

Verfassungsrechtliche Vorgaben gelten nicht nur für geheime Ermittlungsmaßnahmen der Sicherheitsbehörden,  sondern für jede Form staatlicher Datenverarbeitung.  Das abgelaufene Jahr wurde durch einen besonderen Trend gekennzeichnet: die Neigung zur Vorratsdatenverarbeitung. Im Volkszählungsurteil  hat das Bundesverfassungsgericht die Vorratsdatenverarbeitung zu unbestimmten Zwecken als verfassungswidrig verworfen. Dabei handelt es sich um eine Umsetzung des Erforderlichkeitsgrundsatzes für komplexe Gesamtverfahren. Mit dem Verbot der Sammlung auf Vorrat soll verhindert werden, dass Daten "einfach darauf los", "ins Blaue hinein" oder "für alle Fälle" gespeichert werden.

Es gilt – wie in anderen Bereichen auch – der Grundsatz der Datensparsamkeit. Dieser scheint bei manchem Projekt der Bundesregierung in Vergessenheit geraten zu sein. Dies zeigt die Datenerhebung  sämtlicher Kfz-Kennzeichen im Rahmen der Erhebung der Autobahnmaut  (Tz. 4.5.1) oder der Zugriff von Finanzbehörden auf sämtliche Kontostammdaten  bei Banken  (Tz. 4.9). Aber nicht nur im Verkehrs- und im Finanzressort werden akribisch umfassende Datensammlungen zwecks späterer Selektion im eventuellen Bedarfsfall angelegt. Auch in anderen Bereichen und auf anderen Ebenen findet diese Idee Anhänger.

Ein klassisches Beispiel für eine verfassungswidrige Vorratsdatenspeicherung ist die Speicherung  von Telekommunikationsdaten  für andere als Kommunikationszwecke. Es gab und gibt keinen vernünftigen Grund die Anbieter zu verpflichten, beim Verkauf von Prepaid-Handys die Identifikationsdaten der Kunden zu erfassen, nur auf den vagen Verdacht hin, die Angaben könnten künftig für Zwecke einer heimlichen Telefonüberwachung  durch Sicherheitsbehörden  von Nutzen sein (25. TB, Tz. 8.4). Nicht erfolgreich war der Versuch, sämtliche Telekommunikationsanbieter zu verpflichten, langfristig die Verkehrsdaten sämtlicher Kommunikationsverbindungen zu speichern (25. TB, Tz. 8.5; 26. TB, Tz. 7.1). Nachdem die Befürworter gegen die verfassungsrechtlichen Argumente auf nationaler Ebene nicht durchgedrungen sind, haben sie allerdings auf die europäische Karte gesetzt. Der EU-Ministerrat versucht nun schon in mehreren Anläufen, Provider  für Internet  und für sonstige Telekommunikation  zu einer ein- bis dreijährigen Vorratsspeicherung  sämtlicher Verbindungs- und Standortdaten zu verpflichten. Doch auch diese Initiativen stoßen auf Widerstand, nicht nur bei Datenschützern und Bürgerrechtlern. Nationale Parlamente wie der Deutsche Bundestag, das Europäische Parlament und die EU-Kommission widersetzten sich bisher hartnäckig und erfolgreich den Bestrebungen aus dem Ministerrat.

2.3    | Das JobCard-Verfahren – der zentrale Einkommensdatenpool

Mit dem JobCard-Verfahren sollen in einer zentralen Speicherstelle alle Arbeits- und Einkommensdaten der gesamten abhängig beschäftigten Bevölkerung in Deutschland gespeichert werden.

Erklärter Zweck des Verfahrens ist die Entlastung der Arbeitgeber von der Ausstellung von Entgeltbescheinigungen, die man Sozialleistungsträgern z. B. bei der Beantragung von Arbeitslosengeld, Wohngeld, Kindergeld oder BAföG vorlegen muss. Alle öffentlichen und privaten Arbeitgeber sollen zu diesem Zweck monatlich sämtliche relevanten Einkommensdaten elektronisch an eine Speicherstelle (ZSS) schicken, in der sie dann für die Sozialleistungsträger zum Abruf bereitstehen. Die Mitarbeiter der Sozialbehörden sollen zum Abruf der Daten nur befugt sein, wenn die Antragsteller ihre Erlaubnis gegeben haben. Hierzu sollen alle abhängig Beschäftigten eine signaturgesetzkonforme Chipkarte,  die so genannte JobCard, erhalten. Das Verfahren wird derzeit – noch nicht im Realbetrieb – mit einigen Arbeitgebern und Sozialbehörden erprobt.

Als die Landesbeauftragten zum ersten Mal über dieses Verfahren informiert wurden, waren die wesentlichen technischen Modalitäten schon festgelegt. Alle Forderungen nach grundlegenden Verfahrensänderungen zur Wahrung der informationellen Selbstbestimmung wurden von den für die Projektdurchführung Verantwortlichen bisher zurückgewiesen. Unsere zentrale Forderung besteht darin, dass die Einkommensdaten der Beschäftigten mit deren öffentlichem Schlüssel direkt bei den Arbeitgebern verschlüsselt und so an die ZSS zur Speicherung versandt werden. Auf diese Weise könnten die Daten ausschließlich mit dem privaten Schlüssel der Betroffenen entschlüsselt und genutzt werden, wenn diese ihn den jeweiligen Sozialbehörden für den Abruf der Daten zur Verfügung stellen. Durch diese Ende-zu-Ende-Verschlüsselung hätten ausschließlich die Betroffenen selbst die Verfügungsbefugnis über ihre eigenen Daten.

Nach dem bisherigen Konzept soll die Verfügungsgewalt über diesen sensiblen Datenpool bei der ZSS liegen. Damit stehen die zentral elektronisch gespeicherten Daten grundsätzlich auch für sonstige Zwecke zur Verfügung. Zwar hat offiziell bisher niemand bestätigt, dass Nutzungen zu anderen Zwecken geplant sind, doch wurde von den dafür zuständigen Stellen bereits öffentlich darüber nachgedacht, die zwangsweise bei den Arbeitgebern erhobenen Daten z. B. zur Bekämpfung der Schwarzarbeit zu verwenden. Selbstverständlich wäre der Datenpool auch von größtem Interesse für die Finanzbehörden, die Polizei, die Staatsanwaltschaften und viele andere "Bedarfsträger". Es genügt eine kleine Gesetzesänderung, um deren Zugriff zu ermöglichen. Das Resultat wäre der "gläserne Arbeitnehmer".  Die Arbeits- und Kostenentlastung der Unternehmen mag ein wichtiges Ziel sein. Es auf einem datenschutzfreundlichen Weg zu erreichen sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Stattdessen ist geplant, nicht nur die Arbeitsentgelte zu speichern, sondern auch Entgeltersatzzahlungen wie z. B. Kranken- oder Arbeitslosengeld.

Bisher wurden vom Bundeswirtschaftsministerium trotz entsprechender Aufforderung durch die Datenschutzbeauftragten keine Zahlen vorgelegt, in welchem Umfang die Daten zur Ausstellung von Bescheinigungen wirklich benötigt werden. Es hat z. B. keinen Sinn, kindergeldrelevante Daten von kinderlosen Arbeitnehmern zu sammeln. Tatsächlich dürften weit über 90 % der monatlich neu angehäuften Daten nie genutzt werden. Für die Entwicklung der gewaltigen Infrastruktur der Einkommensüberwachung wurden schon große öffentliche Ausgaben getätigt, ohne dass die Vereinbarkeit mit der Verfassung von neutraler Stelle geprüft worden wäre. Tatsächlich handelt es sich bei dem JobCard-Verfahren um eine verfassungswidrige Vorratsdatenspeicherung mit einem gewaltigen Missbrauchsrisiko. Eine gesetzliche Grundlage für das Verfahren gibt es bisher nicht. Auch eine öffentliche parlamentarische Debatte hierüber wurde bislang nicht geführt.

Es drängt sich der Eindruck auf, als verfolge man mit dem JobCard-Verfahren noch andere Zwecke als die Entlastung der Arbeitgeber beim Ausstellen von Bescheinigungen. Wir wollen nicht unterstellen, dass die damit ermöglichte Einkommenskontrolle das wahre Motiv für die Durchsetzung dieses Verfahrens ist. Sicherlich brächte das Verfahren für die IT-Wirtschaft große Aufträge – finanziert aus Steuermitteln. Wahrscheinlich verspricht man sich durch die flächendeckende Ausgabe von digitalen Signaturkarten den Durchbruch dieser Technologie auf dem Massenmarkt. Aber selbst für diese wirtschaftlichen Nebeneffekte wurden bisher keine aussagekräftigen Untersuchungen vorgelegt.

Was ist zu tun?
Das JobCard-Verfahren sollte ad acta gelegt werden. Alternativ muss eine technisch-organisatorische Lösungrealisiert werden, bei der die Betroffenen die ausschließliche Verfügung über ihre Arbeits- und Einkommensdaten behalten.


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