2         Großes allgegenwärtiges Unbekanntes: das Internet

Das Spannungsverhältnis zwischen Sicherheit und Datenschutz besteht – trotz Verlagerung von thematischen Schwerpunkten – seit den Anfangszeiten des Datenschutzes. Eine qualitativ neue Herausforderung für den Datenschutz ist dagegen seit über 10 Jahren zunehmend das Internet. Hier spielt sich inzwischen gesellschaftlich und gesellschaftspolitisch ein “second life” (so den Name einer großen globalen virtuellen Spielplattform) ab. Das Netz verdrängt zunehmend die klassischen Mittel der Distanzkommunikation Briefpost und Telefon. Es ersetzt teilweise schon vollständig die klassischen Mittel der gegenständlichen Informationsbeschaffung und schickt sich an, selbst die bisherigen elektronischen Medien – Rundfunk und Fernsehen – zu verdrängen. Sämtliche Lebensbereiche – von der geschäftlichen Tätigkeit über den individuellen Konsum bis hin zur Freizeitgestaltung – werden vom Internet berührt, teilweise schon dominiert.

2.1         Herausforderung für Datenschutz und Politik

Es ist also eine Binsenweisheit, dass persönliche Entfaltung, Individualität, die Wahrnehmung der Freiheitsrechte und das soziale Leben sich immer mehr im und um das Internet abspielen – mit gravierenden Konsequenzen für das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung: Blieben in der realen Welt bei unseren Betätigungen nur wenige körperliche Spuren (z. B. in Form von Schriftstücken) und eine überschaubare Menge an persönlichen Daten zurück, so hinterlassen praktisch sämtliche Aktivitäten im Internet ihre elektronischen Spuren.

Die Zukunft scheint dem digitalen Bürger zu gehören. Nicht der gläserne, d. h. der durchsichtige Mensch, ist die absehbare Perspektive, sondern der digitale Mensch, neben dessen körperliche und geistige eine diese abbildende digitale Existenz tritt. Diese digitale Existenz bestimmt – mit dem Bedeutungszuwachs des Internet und der sonstigen elektronischen Lebensbegleiter – unser Denken, unseren sozialen Austausch, unser demokratisches Handeln, die Inanspruchnahme unserer Freiheiten.

Dieser sich derzeit abspielende Wandel ist bis heute noch nicht real ins Bewusstsein der Politikerinnen und der Politiker gedrungen. Diese erkennen wohl das wirtschaftliche Potenzial des Internet, das sich in Umsatz, Arbeitsplätzen und Gewinnen (aber oft genug auch in Verlusten) niederschlägt. Sie erkennen auch die Gefahren für die Sicherheit, wobei dies vor allem für die augenscheinlichen Auswirkungen z. B. bezüglich der Kriminalität zutrifft. Regelmäßig nicht erkannt werden die strukturellen Sicherheitsrisiken, die sich durch die Abhängigkeit von der neuen Netztechnologie ergeben. Erst langsam zieht daher die Politik die Konsequenzen hinsichtlich der dringend notwendigen Schaffung von umfassenden IT-Sicherheitsinfrastrukturen. Dies ist – sozialisationsbedingt – nur verständlich. Die Generation der heute Regierenden haben (noch) nicht das Verständnis für die technischen Möglichkeiten und Grenzen der digitalen Vernetzung, da sie das Netz nutzen wie ehedem ihre Schreibmaschine, wie ihre Bibliothek oder wie noch heute ihr Telefon. Die heutige Jugend hat dagegen das Internet oder auch die Mobilkommunikation in ihr soziales Leben vollständig integriert.

Noch wenig erkennt die Politik daher sowohl die positiven wie die negativen Potenziale für unsere Freiheiten. Dies sind nicht nur das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und – modern formuliert statt “Fernmeldegeheimnis” – das Telekommunikationsgeheimnis. Viemehr hat jedes unserer – zumeist aus dem 18. Jahrhundert stammende – Grundrechte einen informationellen Bestandteil: selbstverständlich die Informations- und Pressefreiheit, aber z .B. auch das Recht auf Religionsfreiheit (z. B. bei Ausübung im Internet), der Schutz des Eigentums (z. B. Schutz von Urheberrechten und geistigem Eigentum), die freie Berufsausübung (nicht zuletzt bei IT-Berufen und mit dem Internet verbundenen Berufstätigkeiten) oder gar der Schutz vor politischer Verfolgung (die auch über das Internet möglich ist).

2.2         Neue Instrumente

Angesichts dieses Befundes stellt sich die Frage, ob die digitale Vernetzung unsere Freiheiten nicht nur weiterentwickelt, sondern ob diesen nicht auch eine neue eigenständige Qualität bekommen. Dies ist der Ausgangspunkt eines am Horizont auftauchenden neuen Grundrechts – des Rechts auf Internetfreiheit. Dieses beinhaltet das Recht der freien Nutzung des Internets, insbesondere zur Kommunikation und zur Informationsbeschaffung. Freie Nutzung bedeutet auch unbeobachtete Nutzung.

Welche praktischen Konsequenzen haben diese Entwicklungen für den Datenschutz? Dieser Frage muss sich die gesamte Gesellschaft immer mehr stellen, angesichts der Pflicht zur Vorratsdatenspeicherung, also der langfristigen Aufbewahrung der mehr werdenden digitalen Spuren, und der zunehmenden Quantität und Qualität von personenbezogenen Daten im Internet. Es bedarf einer neuen Kalibrierung des Datenschutzes, wenn globale Unternehmen wie Google oder auch US-amerikanische Geheimdienste einen großen Prozentsatz unserer Netzaktivitäten kontrollieren können. Es macht teilweise ein Umdenken nötig, wenn im Netz von unserer gesamten Erde Satellitenbilder bereitgestellt werden, auf denen z. B. erkannt werden kann, dass da jemand im Bikini auf der Veranda meiner Wohnung in der Sonne sitzt. Es macht ein Umdenken nötig, wenn ein Gericht feststellt, dass die anonyme Bewertung durch Schüler von schulischen Lehrkräften im Internet von diesen hingenommen werden muss.

Dem Umdenken muss ein Umsteuern folgen. Dieses Umsteuern muss – angesichts der globalen Rahmenbedingungen – auf technischer Ebene erfolgen durch die Schaffung von datenschutzkonformen Angeboten, die Entwicklung und Implementierung datenschutzkonformer Internet-Technologien und – Infrastrukturen. Das ULD arbeitet hieran mit, z. B. durch Teilnahme an zwei internationalen Projekten zum Identitätsmanagement (Tz. 8.2 und 8.3), an einer Expertise zu Bürgerportalen (Tz. 8.7), ... oder durch Beiträge zum Datenschutz bei Suchmaschinen (Tz. 7.4). Der Diskussionsbedarf steigt.

Unsere Gesetze – in gewisser Hinsicht sogar unser Internetgesetz, das 2007 in Kraft getretene Telemediengesetz – stammen aus der Vorinternetzeit.

Das Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) ist nicht mehr ansatzweise in der Lage, die Gefahren der Datenverarbeitung für das Persönlichkeitsrecht im globalen Netz zu regulieren. Es ist bereits erkennbar, wie Datenschutz und Privacy-Rechte im Internet rechtlich abgesichert werden können. Hierzu gehören klare und benutzerfreundliche Widerspruchsmöglichkeiten gegen die Datennutzung für Werbung und Marketingzwecke. Rechtliche Anforderungen an die technische Datenlöschung können der „Gnade des Vergessens“ im Internet zum Durchbruch verhelfen. Zur Stärkung des Verbraucherschutzes im BDSG gehören rechtliche Anforderungen an die technische Umsetzung von Korrekturansprüchen, einschließlich eines Rechtes auf Gegendarstellung. Weil keiner der Internet-User sich tatsächlich mit allen Details der Datenverarbeitung befassen kann, muss Zertifizierungsmodellen eine größere Rolle zugewiesen werden (Tz. 9). Die Sommerakademie 2008 wird sich dieser Thematik widmen (Tz. 13).