16. Tätigkeitsbericht (1994)



2.

Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung in der Bewährung

2.1

Die Entwicklung seit dem Volkszählungsurteil

Bereits 10 Jahre ist es her, daß das Bundesverfassungsgericht im Volkszählungsurteil den verfassungsrechtlichen Rang des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung als Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts anerkannt und bekräftigt hat. Nur wenige Urteile des Gerichts sind in ihren zentralen Aussagen so klar und eindeutig und haben eine derart breite Wirkung erzielt. Das Urteil hat dem Datenschutz die Wege geebnet und ihn zu einem festen Bestandteil unserer Rechtsordnung gemacht.

Dutzende von Gesetzen sind seitdem ergangen, in denen das "Kleingedruckte" des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung bereichsspezifisch geregelt ist. Das so entstandene Normengeflecht ist engmaschig und kompliziert. Dies steht der Intention des Verfassungsgerichts, der Bürger solle bereits aus normenklaren Gesetzen erkennen können, mit welcher Verarbeitung seiner Daten er zu rechnen hat, gelegentlich bereits entgegen.

Die Gründe dafür liegen auch in der Komplexität der Datenverarbeitung selbst. Eine Gesetzgebung, die sich über weite Strecken als Umsetzung und Beschreibung der staatlichen Datenverarbeitung versteht, weniger als deren Begrenzung, gibt ein Spiegelbild der enormen Intensität und Dichte der Datenverarbeitung. Anders ausgedrückt: Wer sich über die zunehmende Fülle und Kompliziertheit der Datenverarbeitungsnormen beklagt, meint damit letzlich die Fülle und Kompliziertheit der Datenverarbeitung selbst.

Häufig werden in der Debatte auch die Begriffe Datenschutzrecht und Datenverarbeitungsrecht nicht deutlich genug unterschieden. Letzteres stellt die Gesamtheit der Normen dar, die bei der Verarbeitung von personenbezogenen Daten zu beachten sind, sowie die Erlaubnistatbestände der Datenverarbeitung. Nun kann man zwar mit einem gewissen Recht behaupten, eine Erlaubnisnorm enthalte immer auch ein begrenzendes Element für die Datenverarbeitung, wirke sich also letztlich als Schutznorm für den Bürger aus. Viele der seit dem Volkszählungsurteil geschaffenen Verarbeitungsvorschriften sind aber derart allgemein und umfassend zugunsten der Eingriffsseite formuliert, daß es schwerfällt, sie als "Datenschutzgesetze" im eigentlichen Sinn zu verstehen.

Noch fehlt der Datenschutzgesetzgebung das krisensichere verfassungsrechtliche Fundament. Die Gemeinsame Verfassungskommission des Bundestages und des Bundesrates hat zwar ausdrücklich die Aufnahme eines Grundrechts auf Datenschutz in die Verfassung mit absoluter Mehrheit befürwortet, nicht aber mit der notwendigen 2/3-Mehrheit. Derzeit liegen dem Deutschen Bundestag entsprechende Anträge der SPD-Fraktion und der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN vor. Eine Aufnahme des Grundrechts auf Datenschutz in die Verfassung hätte eine positive Signalwirkung, würde das Grundrecht auch bei sich ändernder Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sichern und dem Anspruch einer Verfassung für die Informationsgesellschaft entsprechen. Erstmals würde damit überdies der Grundrechtskatalog erweitert, statt, wie häufig in den vergangenen Jahren, eingeschränkt.

Trotz umfänglicher Gesetzgebung seit Erlaß des Volkszählungsurteils klaffen im Recht der Datenverarbeitung noch beträchtliche Lücken. So ist die Strafprozeßordnung in den vergangenen Jahren zwar mehrfach um neue Eingriffsinstrumente erweitert worden. Die dringend notwendige datenschutzrechtliche Ergänzung steht aber noch aus. Dabei geht es um weit mehr als nur die Erfüllung einer lästigen Pflicht. Informationen, die im Zusammenhang mit Strafermittlungen erhoben worden sind, gehören zu den sensibelsten, über die staatliche Stellen verfügen. Regelungen zum Umgang mit diesen Daten sind alles andere als trivial. Wenn wir schon, um nur einen wichtigen Aspekt herauszugreifen, in Gestalt des Bundeszentralregistergesetzes detaillierte und wohlabgewogene Regelungen für die Speicherung und Nutzung von Informationen über Strafurteile haben, um wieviel mehr benötigen wir vor dem Hintergrund der Unschuldsvermutung derartige Vorschriften für den Umgang mit Strafermittlungsdaten, wenn die Schuld noch gar nicht gerichtlich festgestellt ist.

Das Fehlen von Datenschutzvorschriften in der Strafprozeßordnung macht sich besonders nachteilig in einem Land bemerkbar, das wie Schleswig-Holstein die Datenverarbeitung bei den Staatsanwaltschaften in Form des GAST-Verfahrens automatisiert hat (Tz. 4.3.1). Andere wichtige Gesetzgebungsdefizite bestehen beim Bund vor allem im Polizei- und Justizbereich, beim Arbeitnehmerdatenschutz und besonders beim Datenschutz in der Privatwirtschaft.

2.2

Neue Risiken für den Datenschutz

Diese Defizite wirken um so schwerer, als dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung beständig neue Gefahren erwachsen. Wer die Datenverarbeitungstechnik zur Zeit des Volkszählungsurteils mit dem heutigen Stand der Entwicklung vergleicht, bekommt einen Eindruck von der ungeheuren Dynamik der Materie. Die bloße Umsetzung des Volkszählungsurteils durch Schaffung von Rechtsgrundlagen reicht nicht mehr aus. Der Blick muß sich stärker auf die Technik des Verarbeitungsprozesses selbst richten. Zwar war es richtig, nach dem Volkszählungsurteil auch die konventionelle Datenverarbeitung außerhalb der Dateien in den Datenschutz einzubeziehen. Die Befassung mit Akten, Listen, Notizbüchern etc. darf aber nicht den Blick auf die Risiken einer auf der Oberfläche immer einfacher, in Wirklichkeit aber immer komplizierter werdenden Technik versperren. Die sichere Beherrschung des automatisierten Verarbeitungsprozesses, die Garantie seines ordnungsgemäßen Ablaufs und die notwendigen organisatorischen Konsequenzen innerhalb der Verwaltung haben dabei Bedeutung weit über den Datenschutz hinaus.

Neue Risiken drohen dem Datenschutzrecht der Bürgerinnen und Bürger aber nicht nur aus der Technik, sondern aus den sich ändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Sie sind gekennzeichnet durch steigende Kriminalität und wachsende öffentliche Finanznot. Einer stärkeren Unterordnung von Einzelinteressen unter das Gemeinwohl wird, häufig unspezifiziert, das Wort geredet.

Der große Lauschangriff ist zwischen den großen Parteien dem Grunde nach offenbar nicht mehr umstritten. Prompt ist die öffentliche Diskussion zum Thema merklich abgeflaut. Wo früher leidenschaftlich für die Einführung des großen Lauschangriffs gestritten wurde, so als sei er das alles entscheidende Wundermittel zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität, wird nunmehr zwei Nummern kleiner argumentiert. Gewiß, wichtig sei der Lauschangriff schon, aber er sei nur eine Verbesserungsmöglichkeit unter anderen. Man solle keine Wunderdinge von ihm erwarten usw., zusätzlich brauche man mindestens noch ...

Die Kritiker des großen Lauschangriffs müssen sich durch derlei Wechsel in der Tonart bestätigt fühlen: Einen so gravierenden Einschnitt wie die Zulassung des Lauschangriffs vorzunehmen, ohne daß er wirklich unabweisbar notwendig ist, ist unverhältnismäßig. Das Recht auf Privatheit wird einen entscheidenden Einbruch erleiden, wenn man sich nicht einmal mehr in den eigenen vier Wänden unbeobachtet bewegen kann. Und das alles nur, um das polizeiliche Ermittlungsinstrumentarium zu komplettieren und abzurunden? Ohne daß sich am Ansteigen der Kriminalität oder der Aufklärungsquote irgend etwas spürbar ändern würde?

Die nächsten Forderungen liegen bereits auf dem Tisch. Das Bundeskriminalamt soll erweiterte Befugnisse erhalten zu Lasten des föderalen Aufbaus der Polizeibehörden. Die Schwelle für strafprozessuale Ermittlungen, in der bestehenden Strafprozeßordnung bereits auf denkbar niedrigem Niveau, soll noch weiter abgesenkt werden. Obwohl die Aufklärungsquote der begangenen Straftaten in den letzten Jahren gesunken ist, sollen die Ermittlungskapazitäten stärker in das Vorfeld von Straftaten gelenkt werden. Welche Rechtssicherheit wird noch verbleiben, wenn Polizei und Staatsanwaltschaft bereits beim Verdacht eines Anfangsverdachts mit den Ermittlungen beginnen dürfen?

Mehr und mehr droht das Gespür für den "Mut zur Lücke" verloren zu gehen. Kennzeichnend für den demokratischen Rechtsstaat ist aber nicht seine Allwissenheit, sondern die bewußte Beschränkung seiner Informationsherrschaft.

Die öffentliche Finanznot fügt den Gefährdungen für den Datenschutz neue hinzu. Wo alle sparen müssen, besteht für den unberechtigten Bezug von Leistungen keinerlei Verständnis mehr. Die Jagd nach Steuer-, Subventions-, Sozialleistungs- oder Gebührensündern drängt die Diskussion über die Ursachen der Finanznot in den Hintergrund. Nunmehr zeigt sich, daß die Möglichkeiten der EDV auch tatsächlich genutzt werden. Wo der schnelle Datenabgleich die manuelle Prüfung ersetzt, geht leicht der Blick für einen schleichenden Erosionsprozeß verloren. Solange Vergleiche "per Hand" durchgeführt werden mußten, war notgedrungen die Beschränkung auf die Verdachtsfälle unabdingbar. Der elektronische Datenabgleich schafft mühelos die Prüfung von Zehntausenden in kürzester Frist. Wozu sich auf die Verdächtigen beschränken, wenn jeder überprüft werden kann?

So wächst die Zahl der Wünsche nach "Abgleich" und pauschaler Überprüfung. Das Gesetz zur Umsetzung des föderalen Konsolidierungsprogramms beispielsweise schafft Rechtsgrundlagen für einen Abgleich der unterschiedlichen Sozialleistungen, ohne daß ein Verdacht bestehen müßte. Die Gebühreneinzugszentrale der Rundfunkanstalten (GEZ) möchte gerne die Daten aller Meldeveränderungen abgleichen, egal ob die Betreffenden ein Rundfunkgerät besitzen oder ihre Gebühren bezahlt haben (vgl. Tz. 7.2). Auf die Idee der Überprüfung aller Wahlberechtigten eines Bundeslandes schließlich wäre früher niemand gekommen, wenn dies per Hand, Karteikarte für Karteikarte, hätte erfolgen müssen.

Alle diese Abgleiche und Kontrollvorgänge mögen für sich gesehen eine gewisse Berechtigung haben. Am Ende tragen sie aber bei zu einem Netz von Überwachungs- und Überprüfungsmöglichkeiten. Jeder Bürger wird zum potentiell Verdächtigen, dessen Korrektheit es erst zu überprüfen gilt. Wenn das keine grundlegende Änderung im Verhältnis des Staates zum Bürger ist?

Neues Material für Überprüfungen aller Art entsteht an allen Ecken und Enden. Der zunehmende Gebrauch von Kreditkarten führt zu breiten Datenspuren, aus denen das Konsum- und Freizeitverhalten der Kartenbenutzer abgelesen werden kann. Bei der Einführung kartengestützter Zahlungssysteme im öffentlichen Nahverkehr und im Bereich der Autobahngebühren steht erneut eine grundsätzliche Weichenstellung an (vgl. Tz. 4.5.1): Noch ist nicht entschieden, ob in diesem Zusammenhang nach Ablauf einer bestimmten Zeit abgerechnet wird (Post-paid) oder im vorhinein (Pre-paid). Bei Post-paid-Verfahren muß zunächst aufgezeichnet werden, wer wann wo welche Leistungen beansprucht hat. Würde die Entscheidung für diese Variante fallen, so würden die Bürgerinnen und Bürger unfreiwillig selbst ein detailliertes Bewegungsprofil liefern.

Es besteht also gerade beim Recht auf informationelle Selbstbestimmung auch zehn Jahre nach dem Volkszählungsurteil kein Anlaß, sich zurückzulehnen und das Erreichte selbstzufrieden zu betrachten. Zu dynamisch ist die Technik, auf die der Datenschutz nur reagiert. Noch ist die Frage nicht entschieden, ob sich die Bundesrepublik nicht doch auf dem Weg in den Überwachungsstaat befindet.


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