Mittwoch, 16. November 2011

3: Vorträge, Vorlesungen, Aufsätze

Was bedeutet Privatsphäre heute?

Thilo Weichert, Leiter des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz Schleswig-Holstein

Thesen zur Diskussionsveranstaltung der Liberalen Hochschulgruppe und der Jungen Liberalen, Kiel
am 16.11.2011, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Audimax A

  1. Der Schutz der Privatsphäre ist ein grundlegendes menschliches Bedürfnis, dessen Befriedigung zur selbstbestimmten Entwicklung von Individualität und Sozialität unabdingbar ist.
  2. In unserer modernen Informationsgesellschaft, in der Privatsphäre nicht mehr nur räumlich (Wohnung) und sozial (Familie) definiert wird bzw. werden kann, weil höchstpersönliche Informationstechnik in alle Lebensbereiche einzudringen in der Lage ist, wird der Schutz der Privatsphäre ergänzt durch ein Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Der sphärenbezogene Schutz des Privaten und der informationellen Selbstbestimmung wird seit 2008 durch das vom Bundesverfassungsgericht aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht abgeleitete Grundrecht auf Gewährleistung der Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme, das sog. Computergrundrecht gestärkt.
  3. Die Verständnisse von Privatem und Öffentlichem sind geprägt von kulturellen, religiösen, historischen, sozialen, ökonomischen, rechtlichen, organisatorischen und technischen Rahmenbedingungen in einer Gesellschaft und unterscheidet sich zwischen den Gesellschaften. Durch die Globalisierung der Datenverarbeitung ist es erforderlich, sich auf gemeinsame Mindeststandards zu verständigen.
  4. Die Anerkennung der Grund- und Menschenrechte auf Privatsphäre und auf informationelle Selbstbestimmung ist europaweit durch die Grundrechtecharta gewährleistet. In vielen anderen Staaten sehen die Rechtsordnungen keinen oder keinen adäquaten Schutz vor. Wegen der Globalität der informationstechnischen Vernetzung muss auf internationaler Ebene eine Meinungsbildung stattfinden, deren Ziel die Erarbeitung einer Charta digitaler Grundrechte sein sollte, die diese Rechte mit beinhaltet.
  5. In Europa besteht inzwischen ein valides Regelungsgeflecht zum Schutz von Privatheit und informationeller Selbstbestimmung im Bereich der Privatwirtschaft. In den USA und in vielen anderen Ländern gibt es dagegen allenfalls Ansätze einer staatlichen Regulierung bzw. einer Selbstregulierung der Wirtschaft. Der Verzicht auf Datenschutzregelungen und auf Beachtung von Datenschutzstandards in den USA hat bisher für US-Unternehmen in Europa noch zu keinen nennenswerten Umsatzeinbußen geführt. Dies ermutigt die US-Regierung, mittelfristig keine IT-Regulierung anzustreben, da so die US-Unternehmen gegenüber europäischen Unternehmen Marktvorteile haben.
  6. Datenschutzregelungen zur Beschneidung hoheitlicher Überwachung und informationeller behördlicher Willkür sind von hoher Bedeutung für die Wahrung von Freiheitsrechten und demokratischer Verwaltung. Die Verweigerung von Privatsphäre und informationeller Selbstbestimmung durch hoheitliche Verwaltungen ist Ausdruck einer tendenziell freiheitseinschränkenden Obrigkeit. Deren Missachtung ist für moderne totalitäre Staaten wie z. B. China oder den Iran konstituierend.
  7. In einer arbeitsteiligen technisierten Informationsgesellschaft lässt sich der Schutz der Privatsphäre nicht mehr durch eindimensionale Instrumente realisieren. Es bedarf vielmehr des Ineinandergreifens eines Instrumentenmixes (staatliche Regulierung, regulierte Selbstregulierung, Normierung, Standards) aus unterschiedlichen Bereichen (Datenschutzrecht, IT-Sicherheit, Ordnungsrecht, Zivilrecht, Verbraucherschutz), an dem sämtliche beteiligte Stellen in die Pflicht genommen werden (Betroffene, Anbieter, Provider, Dienstleister, Staat, Verbände, Gerichte).